Regnet es stark in La Paz, Sucre oder Santa Cruz besteht häufig akute Lebensgefahr.1 Erdrutsche, Überschwemmungen und Schlammlawinen bedrohen Hausbewohner*innen, Verkehrsteilnehmer*innen und Verkäufer*innen. Regnet es lange nicht, dann droht Wasserknappheit2, vernichten Waldbrände die Vegetation großflächig und verenden Nutz- und Wildtiere in Massen. In den Minengebieten leiden die Menschen und Tiere unter der Vergiftung des Trinkwassers, in den Millionenstädten schreitet die Versiegelung des Bodens ungehemmt voran und im Tiefland wird der Wald mit Feuer, Sägen und schwerem Gerät gerodet.
Diese Liste ließe sich beliebig erweitern und zeigt eindrucksvoll mit welchen Umweltproblemen Bolivien sich auseinandersetzen muss. Die Austrocknung des riesigen Poopó-Sees bei Oruro 2015, die ein Meer aus Plastikmüll hinterließ, zeigt beispielhaft wie die Kombination aus Übernutzung, Fehlplanung und Klimawandel ganze Landstriche in eine Plastikwüste verwandeln kann.3 Die Aufbereitung von Schmutz- und Abwasser ganzer Millionenstädte ist ungelöst und so wird das schmutzige Wasser von Haushalten, Landwirtschaft und Industrie einfach in die bereits verdreckten Flüsse geleitet. So hat auch die Verschmutzung des Titicacasees Werte erreicht, die den Fischbestand reduzieren und den Genuss der Forellen zu einem gesundheitlichen Wagnis machen.4
Neben diesen akuten Problemen zeigen sich die Auswirkungen des Klimawandels immer deutlicher und sind zugleich Vorboten des Schreckens, der zukünftig zu erwarten ist. Bolivien ist auf Platz 10 der Länder, die den Risiken des menschengemachten Klimawandels am stärksten ausgesetzt sind.5 Das Klimaphänomen El Niño, dessen Zerstörungskraft durch den Klimawandel sehr wahrscheinlich verstärkt wird, das Abschmelzen der letzten Gletscher in den Anden sowie die fortschreitende Wüstenbildung und Bodenerosion6 werden die, bereits jetzt vorhandenen Probleme, in naher Zukunft vergrößern.
Dem gegenüber steht ein offensichtliches Desinteresse an ökologischen Themen in der Zivilgesellschaft, den Medien und der Politik. Gerade für Touristen und Freiwillige ist es oft schwer nachzuvollziehen, dass viele Menschen Müll einfach auf die Straße werfen, dass Wildtiere gejagt werden, dass jeder Einkauf einer Plastiktütenorgie gleicht und dass mit Ressourcen geradezu verschwenderisch umgegangen wird. Zaghafte Bemühungen wie das Sammeln von Plastikflaschendeckeln, das Öffnen von vegetarischen oder gar veganen Restaurants oder auch grüne Bekenntnisse in Hotels sind eher Kopien und Ausläufer westlicher Trends in Sozialen Medien7, die allerdings bei den allermeisten Menschen im besten Fall auf folgenlose Unterstützung stoßen.
Dies alles steht auf den ersten Blick nicht nur im Widerspruch zur Brisanz bestehender und zukünftiger Probleme, sondern auch zur Verfassung von 2008. Neben Ecuador ist Bolivien ein Land, das sich das Buen Vivir, das „gute“, sprich nachhaltige Leben, in die Verfassung geschrieben hat. Mit dem Buen Vivir wird theoretisch eine Kultur des Lebens, die ein harmonisches Gleichgewicht zwischen Menschen und Natur sichert, angestrebt.8 In der Wirklichkeit ist davon meist nichts zu sehen.
Auf den zweiten Blick lässt sich dieser vermeintliche Widerspruch allerdings erklären.
Dazu hilft ein Blick auf den ökologischen Fußabdruck. Der Global Footprint eines*r Bolivianer*in lag 2018 bei 3.1 Hektar Land, die sie für die Befriedigung ihres gesamten Konsums benötigt. Bei einer Bio Capacity von 14.3 Hektar Land pro Bewohner*in macht das eine Reserve von 11,2 Hektar, die sie jedes Jahr noch verbrauchen könnte, um auf ein ausgeglichenes Ergebnis zu kommen. Der Vergleich zu Deutschland zeigt, dass jede*r Deutsche 4,7 Hektar produktiven Landes pro Jahr für seinen Konsum beansprucht, obwohl ihm nur 1,5 Hektar zur Verfügung stehen. Und dieses chronische Defizit besteht nicht erst seit gestern, sondern schon seit weit über 60 Jahren. Objektiv betrachtet schadet ein*e Bewohner*in Deutschlands der Umwelt seit Jahrzenten mehr als ein*e Bolivianer*in es je getan hat.9 Natürlich liegt dies an den Unterschieden in der Entwicklung, der Industrialisierung und des Lebensstandards in den beiden Ländern. Laut dem Human Development Index liegt Deutschland mit 0.947 deutlich vor Bolivien mit 0.718.10 Ein Blick in die Vergangenheit zeigt zudem, dass Industrieländer wie Deutschland erst dann begonnen haben, grüne Themen als relevant zu betrachten, als die Auswirkungen in Form von Waldstreben, Ozonloch und verdreckten Flüssen so akut waren, dass man sie nicht mehr verdrängen konnte. So lassen sich auch die Wahlerfolge der Grünen mit Umweltthemen ab den 1980er Jahren erklären.11 Durch die Integration grüner Themen in die Politik und die Sensibilisierung der Zivilgesellschaft konnte das Defizit im Globalen Norden überall zum Teil deutlich reduziert werden, ohne allerdings nur in die Nähe des komfortablen Überschusses Boliviens zu gelangen.12
Letztlich kommt hier der Zielkonflikt zwischen Entwicklung und Wohlstand einerseits und Umweltschutz andererseits offensichtlich zum Ausdruck. Betrachtet man die Weltkarte des Global Foodprints ist der Globale Norden rot, der Globale Süden grün eingefärbt. Dies wird sich mit der zunehmenden Entwicklung der Länder im Süden ändern, sodass vermutlich in naher Zukunft die ganze Welt rot eingefärbt sein wird. Mit der erfreulichen kontinuierlichen Steigerung des Human Development Index in den letzten 30 Jahren in Bolivien von 0.551 auf 0.718 sank zugleich der Überschuss des Global Foodprints im selben Zeitraum von über 23 auf gut 11 Hektar.
Sollte der Globale Süden deswegen auf Entwicklung, Industrialisierung und Wohlstand verzichten? Verzichtet er auf seine Potenziale, was bekommt er als Ausgleich? Kann der Globale Norden auf die Ausbeutung der Ressourcen im Globalen Süden verzichten? Ist es möglich Wohlstand ohne (Neo)-Extraktivismus13 zu generieren? Gibt es eine Entwicklung, die die Menschen aus der Armut führt, ohne sie in den Konsumismus zu treiben?
Dies alles sind Fragen, die es zu stellen und zu beantworten gilt, möchte man die grünen Herausforderungen der Welt und Boliviens global und auf Augenhöhe betrachten. Einfache und schmerzfreie Antworten wird es nicht geben. Dennoch kann eine Einordnung helfen, die vermeintliche moralische Überlegenheit des Nordens in Umweltthemen zu enttarnen und zugleich dem Süden vor Augen zu führen, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis die Almende auch im Globalen Süden aufgezehrt sein wird.
Das Bolivianische Kinderhilfswerk e.V. hat sich angesichts der Dringlichkeit der Thematik dazu entschieden, neben Kinderschutz, Bildung und Gesundheit nun auch Umweltthemen zu adressieren. Dies fängt im Kleinen in Form eines Umweltkonzeptes für die Geschäftsstelle in Stuttgart an, führt über die Seminararbeit mit den Freiwilligen und endet in unseren Projekten und Einsatzstellen vor Ort. Wir sind der Auffassung, dass unsere Partner und wir im Sinne unserer Vision nachhaltig, global und selbstbestimmt denken und handeln müssen, grüne Herausforderungen gehören da dazu. Sie können uns dabei unterstützen.
4https://www.srf.ch/news/international/der-titicacasee-ist-eine-kloake
5https://data.footprintnetwork.org/#/
6https://la-paz.diplo.de/bo-de/themen/entwicklungszusammenarbeit/laendliche-entwicklung-klima/1868042
7https://www.bolivia.com/vida-sana/mujer/las-sandalias-veganas-que-se-hacen-tendencia-en-redes-207293
8http://www.denkwerkzukunft.de/index.php/inspiration/index/BuenVivir
10https://countryeconomy.com/hdi/germany
12https://data.footprintnetwork.org/#/
13https://www.boell.de/de/dossier-neo-extraktivismus-lateinamerika
Weitere Quellen:
Recent Comments